Young Carers

Plötzlich erwachsen

Natasha übernahm als Kind Aufgaben, die sonst Erwachsene erledigen. Sie berichtet von ihren Erfahrungen, Erkenntnissen und Zielen.
Ein Porträtfoto von Natasha.

Young Carers sind Kinder und Jugendliche, die im familiären Umfeld Aufgaben übernehmen, die eigentlich Erwachsene erledigen. Acht Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz betreuen eine aufgrund von Krankheit, Unfall, Beeinträchtigung oder Sucht pflegebedürftige nahestehende Person. Bei den Young Adult Carers, den 16- bis 24-Jährigen, sind es sogar 15 Prozent. 

So auch Natasha, die bereits als 8-Jährige zum Young Carer wurde. Sie ist im Kanton Zürich aufgewachsen, mittlerweile in ihren 20ern und studiert an der Universität Zürich. «Meine freien Minuten verbringe ich gerne beim Joggen in der wunderschönen Landschaft des Zürichseeufers, erkunde neue Restaurants in Zürich mit meinen Freunden oder plane meine nächste Reise ins Unbekannte», erzählt sie. 

Sie berichtet von ihrer Situation als Kind: «Mit acht Jahren wurde ich zum Young Carer, als meine Mutter unter anderem an einer Depression, posttraumatischer Belastungsstörung sowie Zwangsstörung erkrankte. Als ich 11 Jahre alt war, erhielt sie die Diagnose Krebs. Mit diesen Diagnosen veränderte sich nicht nur das Leben meiner Mutter, sondern auch das Leben der gesamten Familie. Kurzgefasst: Ich musste teilweise in die Rolle meiner Mutter schlüpfen. Spontane Treffen mit Freunden gab es selten. Ich musste sicherstellen, dass meine Schwester und ich unsere Hausaufgaben erledigten und dass es Mahlzeiten gab. Mit der Verbesserung des psychischen Zustands meiner Mutter musste ich weniger Aufgaben übernehmen. Es gab auch Zeiten, in denen mein Leben fast 'normal' war.» 

Anfänglich war mir gar nicht bewusst, dass andere Kinder nicht dieselben Aufgaben erledigen mussten, wie ich.
Natasha

«Ich war davon überzeugt, es sei normal, was ich durchlebe. Mit 12 Jahren hatte ich bemerkt, dass es nicht normal ist, als Kind Aufgaben zu übernehmen, die sonst Erwachsene erledigen. Mit 20 Jahren bin ich zufälligerweise im Internet über den Begriff «Young Carer» gestolpert. Ich war überrascht, dass allein in der Schweiz über 50’000 andere junge Personen existieren, die auch im Alltag eine nahestehende Person unterstützen. Denn ich war jahrelang fest davon überzeugt, dass ich mit diesen Erfahrungen allein bin.»

Wertvolle Kompetenzen

Auf die Frage, was ihr in der Situation als Young Carer geholfen hat, antwortet Natasha: «Meine Familie. Auch wenn es eine schwere Zeit für mich und meine Familie war, versuche ich auch die positiven Seiten zu erkennen. Ich habe in dieser Zeit viel über Empathie, Verantwortung und Durchhaltevermögen gelernt und früh Selbstständigkeit entwickelt – wertvolle Kompetenzen für alle Lebensbereiche. Und nicht zuletzt: Ich bin mir nicht sicher, ob meine Familie ohne diese schweren Erlebnisse einen solchen Zusammenhalt hätte. Auch die Unterstützung meiner Freunde, auch wenn sie nichts von meiner Situation wussten, haben sie mir ein Stück Unbeschwertheit gegeben. Daneben hat mir die professionelle Beratung meiner Psychologin geholfen, die Situation zu verarbeiten. Zudem war das Ausüben meiner Hobbys hilfreich, um einen Ausgleich im Alltag zu finden – einen Rückzugsort, an dem ich mal abschalten konnte.»

Get-together: Austauschtreffen beim Zürcher Jugendrotkreuz

Das Zürcher Jugendrotkreuz organisiert die Austauschtreffen Get-together. Sie bieten Austausch, Aktivität und Ablenkung. Natasha erzählt davon: «Ich gehe hin und wieder an die Get-together. Auch wenn meine Zeit als Young Carer vorbei ist, tun mir die Get-together unglaublich gut. Davor hatte ich keine Möglichkeit, mich mit anderen Young Carers auszutauschen. Oft sind es dieselben Gefühle, die man durchlebt. Ich hatte vor meinem ersten Get-together im Frühjahr 2024 bereits vieles davon über die Jahre selbst sowie mit professioneller Unterstützung verarbeitet, und dennoch hat der Austausch mit anderen bis heute eine selbstheilende Wirkung. Ich denke, die Get-togethers hätten mir vor 10 Jahren, also während meiner Zeit als Young Carer, viel Unterstützung und Know-how mitgeben können. Was ich zudem auch schätze, ist, dass man dort auch als junge Person ernst genommen wird.» 

Die Get-together tun unglaublich gut und haben eine selbstheilende Wirkung.
Natasha

Natasha empfiehlt anderen Young Carers den Besuch der Get-together: «Ob die Unterstützung der Betreuungspersonen des Zürcher Roten Kreuzes, oder der gegenseitige Austausch mit den anderen – beides kann helfen, sich in der Situation besser zurechtzufinden. Ich sehe die Get-together und das gesamte Zürcher Rote Kreuz als Sammelbecken von wertvollen Ressourcen und Kontakten.» 

Eine Mitteilung an Young Carers 

Ausserdem hat sie noch eine besondere Mitteilung an Young Carers: «Sei selbstbewusst in deiner Rolle! Du leistest viel und das bereits in jungem Alter. Jeder Young Carer kann sich das hoch anrechnen, denn es ist nicht einfach, so viele Rollen und Aufgaben auf einmal zu meistern. Und es gibt nicht einen richtigen Weg. Am wichtigsten ist es, seinen eigenen Bedürfnissen auch Aufmerksamkeit zu schenken. Oft vergisst man im Ganzen sich selbst. Es muss nicht immer professionelle Unterstützung sein. Wichtig ist es, einen Ausgleich zu haben. Ob das Sport, Musik oder sonst ein Hobby ist, spielt keine Rolle. Solange man dabei ein wenig abschalten kann.»

Engagement für die Zukunft

Natasha liegt das Thema am Herzen. Sie engagiert sich als Peer-Beraterin bei EnableMe, wirkt bei Medienkampagnen zum Thema mit und fungiert als Sprachrohr für Young Carers bei Tagungen und Weiterbildungen. Zudem hat sie ihr eigenes Projekt als Teil von den WEF Global Shapers ins Leben gerufen: Caring4YoungCarers. Sie bietet Workshops an Schulen für Lehrpersonen an. «Mein ganzheitliches Ziel ist es, den Dialog über Young Carers zu fördern und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf das Thema zu lenken.»

Von der Gesellschaft wünscht sich Natasha Empathie, Geduld und ein offenes Ohr für Young Carers. Sie erzählt: «Während meiner Teenagejahre habe ich mich häufig nicht verstanden gefühlt. Oftmals fühlte ich mich überfordert oder isoliert, da sich meine Lebensrealität stark von der meiner Freundinnen und Freunde unterschied. Ich empfand es als Herausforderung, meine Situation anderen zu erklären, da ich selbst gar nicht wusste, was ein Young Carer ist – weswegen ich den Dialog darüber sowie Unterstützung für Young Carer als unabdingbar sehe.»

Weitere Infos

Kommen dir die Erzählungen bekannt vor? Oder kennst du eine Person, die in einer solchen Situation ist? Hier findest du mehr Informationen zu den Get-together und weitere hilfreiche Inputs zum Thema Young Carer.