Die meisten Menschen haben sich schon einmal im Leben einsam gefühlt. Wenn dies nicht länger anhält, ist es kein Grund zur Sorge. Gemäss Studien fühlt sich jedoch mehr als jeder zweite bis dritte Mensch – abhängig vom Alter und von der Wohnregion – manchmal oder oft einsam.
Einsamkeit hat verschiedene Ursachen und Hintergründe. Sie tritt vermehrt in sich verändernden Lebensphasen auf: zwischen 25 und 30, im Pensionierungsalter, und ab 80 Jahren, bedingt durch körperliche Einschränkungen und den Verlust von Menschen aus dem sozialen Umfeld. Heidi Bremi, Rotkreuz-Koordinatorin für «Pontesano», und Thomas Seeholzer, Psychologe, erklären im Interview Einsamkeit aus gesellschaftlicher und psychologischer Sicht. Und auch, wie freiwilliges Engagement gute soziale Kontakte ermöglichen kann.
Was ist Einsamkeit?
Heidi Bremi: Einsamkeit ist ein persönliches Empfinden. Menschen, die sich einsam fühlen, erzählen oft, sie hätten entweder zu wenig soziale Kontakte oder sie wünschten sich tiefere, erfüllendere Beziehungen. Manche fühlen sich von niemandem wirklich verstanden. Man kann sich also auch inmitten von Menschen einsam fühlen. Wichtig ist es ausserdem, zu unterscheiden zwischen Einsamkeit, die in einer bestimmten Lebensphase auftritt, beispielsweise nach einem Umzug an einen Ort, an dem man noch niemanden kennt, und Einsamkeit, die chronisch ist und sich nicht so einfach auf ein bestimmtes Ereignis zurückführen lässt. Die erstgenannte Form ist weniger tabuisiert und schambehaftet als die zweitgenannte.
Warum ist es schwierig, über Einsamkeit zu sprechen?
Thomas Seeholzer: Einsamkeit ist oft mit tief verankertem Schamerleben, dem Gefühl des persönlichen Versagens oder der Unzulänglichkeit verbunden. Dies erschwert es betroffenen Menschen, sich selbst das Erleben von Einsamkeit einzugestehen sowie dies im sozialen Umfeld anzusprechen. Umgekehrt tut sich das soziale Umfeld oft schwer, Einsamkeit bei betroffenen Menschen direkt anzusprechen. Hier führt oft Unsicherheit, Überforderung und das Vermeiden-wollen eines unangenehmen Themas zum Tabuisieren.
Welche Folgen hat Einsamkeit?
Heidi Bremi: Meist spricht man über negative Folgen. Diese nehmen oft die Form einer Spirale an: Jemand fühlt sich einsam, schämt sich dafür und bewertet sich selbst als nicht wertvoll im menschlichen Kontakt. Dadurch zieht sich dieser Mensch sozial noch mehr zurück und gerät so immer tiefer in die Einsamkeitsspirale. Menschen, die sehr wenige Kontakte haben, werden häufig misstrauisch gegenüber anderen. Dies macht die Kontaktaufnahme mit ihnen noch anspruchsvoller. Gelegentliche Einsamkeitserfahrungen gehören aber aus meiner Sicht zum Menschsein und können auch bewirken, dass wir schöpferisch tätig werden, dass wir in eine Reflexion über uns und das Leben kommen können. Dies kann bereichernd wirken.
Wo begegnet dir, Heidi Bremi, Einsamkeit im Alltag?
Heidi Bremi: Sehr viele Menschen, die sich beim SRK Kanton Zürich melden, leiden unter Einsamkeit. Bei Tandemprogrammen wie «Pontesano» ist dies häufig sogar der Hauptgrund für eine Anmeldung von Klientinnen und Klienten. Übrigens gibt es auch immer wieder Freiwillige, die Freiwilligenarbeit leisten, um sich weniger einsam zu fühlen. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass das Thema angesprochen werden kann. Wenn es im Verborgenen vor sich hin gärt, kann es auf beiden Seiten eines Tandems die Beziehung schwächen.
Warum sind manche Menschen eher von Einsamkeit betroffen als andere?
Thomas Seeholzer: Dies kann viele Gründe haben: Sie können in der Lebensgeschichte (z.B. traumatische Verlusterlebnisse, Erfahrungen von sozialem Ausschluss) verwurzelt sein, in der Persönlichkeit liegen (z.B. grundlegende Ängstlichkeit, Schwierigkeiten, Vertrauen in zwischenmenschliche Kontakte aufzubauen) oder aus belastenden Ereignissen im Lebensverlauf (z.B. Trennungen, Wohnortwechsel, Migration) entstanden sein.
Was begünstigt chronische Einsamkeit gesellschaftlich?
Heidi Bremi: In der westlichen Welt haben wir einerseits hohe Erwartungen an Beziehungen, andererseits werden Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als unverzichtbar proklamiert. Diese Doppelbotschaft ist problematisch: Hohe Erwartungen können nicht erfüllt werden, absolute Unabhängigkeit ist nicht vereinbar mit unseren Wünschen nach Zugehörigkeit und Verbindung. Ebenso ist unser Wirtschaftssystem auf Konkurrenz aufgebaut. Dies kann Misstrauen säen und so erfüllte Beziehungen verhindern. Auch die digitale Welt, die in der Tendenz wenig physische Begegnung bei gleichzeitiger ständiger Verfügbarkeit bedeutet, kann Einsamkeit verstärken. Andererseits gibt es digitale Räume, in denen geschützt über Einsamkeit gesprochen werden kann oder sich Kontakte knüpfen lassen.
Man kann sich auch mit genügend Kontakten einsam fühlen. Was heisst das konkret?
Thomas Seeholzer: Zwischenmenschliche Kontakte und Beziehungen berühren essenzielle soziale Bedürfnisse des Menschen wie wahrgenommen werden, ernst genommen werden, sich verstanden fühlen, respektiert werden. Wenn diese über längere Zeit nicht ausreichend erfüllt sind, erleben viele Menschen aufgrund dieses qualitativen Mangels Einsamkeit trotz gelebter sozialer Kontakte. Die Qualität der Kontakte bemisst sich insbesondere daran, was wir in den zwischenmenschlichen Beziehungen suchen. Dies hängt mit unserer gegenwärtigen Lebenssituation sowie unseren Bindungsprägungen zusammen.
Was kann ich tun, wenn ich mich über längere Zeit einsam fühle?
Thomas Seeholzer: Ein erster Schritt liegt darin, sich zu fragen, wie man die Einsamkeit erlebt und damit umgehen möchte. Wenn Einsamkeit zu anhaltenden Belastungen und Leiden führt, ist es notwendig, sich Unterstützung zu suchen. Die Überwindung von Scham und Versagensgefühlen ist oft die grösste Herausforderung. Gelingt dieser Schritt, kann er zum Mut und zur Selbstbestärkung führen, weitere Schritte nach aussen zu wagen und sich anderen Menschen anzuvertrauen. Einsamkeit ist weder ein Makel noch eine Krankheit. Die Auswirkungen, insbesondere von chronischer Einsamkeit, können hingegen sehr belastend und krankmachend sein. Dagegen anzugehen kann zunächst in einzelnen, vertrauteren sozialen Kontakten, im Aufsuchen einer Selbsthilfegruppe oder einer Interessengruppe sowie im Rahmen einer Psychotherapie leichter gelingen.
Wie kann ich das Risiko von Einsamkeit verringern?
Thomas Seeholzer: Einsamkeit verweist auf unser essenzielles Bedürfnis nach Bindung, zu uns selbst, zu Mitmenschen und zur Welt. Aus meiner Erfahrung verringern wir das Risiko belastender Einsamkeit, indem wir Bindungen stärken. Dies können wir auf unterschiedliche Art und Weise tun: indem wir Kontakte in der Nachbarschaft aufbauen, Mitinteressierte suchen für Dinge, die wir gerne machen, indem wir uns freiwillig engagieren, in einem Chor mitsingen, indem wir uns achtsam und bewusst in die Natur begeben, wir Freundschaften und Beziehungen pflegen, wir uns immer wieder mit Ritualen der Selbstfürsorge selbst wertschätzend begegnen.